Klassikertexte heute
Ältere Texte sind keinesfalls selbstverständlich oder selbsterklärend, die Lektüre ist oft irritierend und anstrengend. Dies liegt zum einen daran, daß der historische Abstand von rund 200 Jahren in der realen Umwelt Spuren hinterlassen hat, so daß vieles, was dem Autor, seinen Figuren und den zeitgenössischen Rezipienten selbstverständlicher Alltag war, vom heutigen Leser mühsam als historisches Hintergrundwissen gelernt werden muß.
Aber selbst wenn auf der Sachebene die meisten Fragen beantwortet sind, bleiben die Texte oft rätselhaft oder mißverstanden. Der Grund liegt im Sprachwandel. Sprache wandelt sich ständig und hat sich von 1800 bis heute in einem solchen Umfang geändert, daß Vieles in den älteren Texten vom heutigen Sprachgebrauch her nicht mehr unmittelbar verstanden werden kann.
Um diesem Problem abzuhelfen, gibt es bereits seit langem viele klassische Werke der deutschen Literatur in kommentierten Ausgaben bzw. für den schulischen Unterricht Material- und Begleithefte. Diese Hilfsmittel versuchen, drei Ziele zu erfüllen: Worterklärung, Sacherklärung und Erläuterung des historisch-biographischen Hintergrunds mit Verweisen auf mögliche Interpretationsansätze. Die Auswahl der Worterklärungen der meisten Kommentare und Begleithefte erweist sich bei genauerer Prüfung jedoch zu oft als beliebig und unzureichend. Das hat mehrere Gründe:
- der Raum, der für den Kommentar vorgesehen ist, ist immer begrenzt;
- Art um Umfang des erklärungsbedürftigen Wortschatzes sind dem kommentierenden Literaturwissenschaftler nicht bekannt,
- zudem sind die Verständnisprobleme, die ein historischer und darüber hinaus literarischer Text aufwirft, abhängig vom Bildungsstand und den Lesegewohnheiten individuell höchst verschieden,
- weshalb oft nur auffällige „Problemwörter“ in den Genuß einer Erklärung kommen wie Fremdwörter, ausgestorbene Wörter (Archaismen) oder eindeutig dialektale Formen.